Lass uns das Licht anschalten

Ein stiller Moment im Hospiz – und das Geschenk des Lichtes

Die Geschenke vom Wünschebaum lagen sorgfältig verpackt in einem großen Sack getragen vom Weihnachtsmann, als wir durch die Glastür des Hospizes traten. Jedes einzelne war mit guten Gedanken versehen worden – von Menschen, die ich nicht kannte, für Menschen, die sie nie treffen würden. Und doch trug ich eine Frage mit mir, die schwerer wog als alle Päckchen zusammen:

Welche Bedeutung hat solch ein Geschenk, wenn die Tage gezählt sind?


Im Tagesraum versammelten sich alle „Bewohner“, die noch die Kraft dafür aufbringen konnten an einem langen Tisch.. Kaffeeduft mischte sich mit dem Duft von Tannennadeln. Teller mit Kuchen standen bereit. Eine kleine Bescherung war angekündigt – ein Moment von Normalität inmitten des Unausweichlichen.

Andere blieben in ihren Zimmern. Zu müde. Zu schwach. Oder vielleicht zu sehr damit beschäftigt, sich mit dem anzufreunden, was kommen würde.

Die Geschenke wurden verteilt. Höfliche Worte. Dankbare Blicke. Eine freundliche Stimmung legte sich über den Raum wie eine zu dünne Decke an einem kalten Winterabend. Darunter lag etwas anderes – eine Schwere, die nicht mit Worten zu beschreiben war. Eine Stille, die aus den Herzen kam und nicht aus dem Raum.

Diese Stille berührte in mir eine Kindheitserinnerung


Ich sah meine Mutter vor mir.

Weihnachten, vor sehr sehr vielen Jahren. Sie sang mit uns Lieder, backte Marmorkuchen, schmückte den Baum. Für uns Kinder hielt sie das Licht fest, zündete es immer wieder an, obwohl eisiger Wind in ihr tobte.

Denn sie trug eine Trauer, die wir damals nicht verstehen konnten: Sie hatte ihren kleinen Sohn verloren, unseren Bruder, auf eine Weise, die kein Herz verkraften sollte. Und dennoch setzte sie die Weihnachtsmann Maske auf – nicht aus Freude, sondern aus Liebe zu uns. Sie beschehrte uns und sang mit Tränen in der Stimme, die wir für Rührung hielten.

Erst viel später verstand ich: Manchmal ist das größte Geschenk, das Licht für andere zu halten, wenn in einem selbst Dunkelheit herrscht.


Vielleicht war es diese Erinnerung, die mir plötzlich Mut machte.

Ich stand da, verkleidet als Wichtel – mit roter Mütze und Glöckchen am Gürtel. Ein bisschen albern. Ein bisschen mutig. Und irgendwie fühlte es sich gut an.

Es war unangenehm ruhig also fragte ich einfach, mit einer Stimme, die viel fröhlicher klang als mein Herz: „Wollen wir gemeinsam ›Oh Tannenbaum‹ singen?“

Stille.

Ein paar Blicke trafen sich. Unsicherheit lag in der Luft.

„Ihr müsst nicht singen“, sagte ich schnell. „Wer mag, summt einfach. Oder hört zu. Das ist auch gut.“

Und dann begann ich einfach.


Meine Stimme traf nicht jeden Ton. Sie schwankte, suchte ihren Weg durch die Melodie wie ein Kind im Dunkeln. Aber das spielte keine Rolle. Der Weihnachtsmann und der andere Wichtel sangen einfach mit.

Eine zittrige Stimme stimmte ein. Dann eine zweite, kaum hörbar. Ein leises Summen. Ein Mann bewegte nur die Lippen, seine Augen geschlossen, als würde er sich an etwas erinnern, das weit weg und doch ganz nah war.

„Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter…“

Der Raum wurde wärmer. Nicht durch die Heizung. Durch etwas anderes. Durch das Licht der Musik.

Für einen Moment waren wir nicht mehr im Hospiz. Wir waren in allen Weihnachten, die je gewesen waren. Wir waren Kinder, Eltern, Großeltern. Wir waren Erinnerung und Gegenwart zugleich.


Dann gingen wir durch die Flure zu denen, die in ihren Zimmern lagen.

Unser Gesang hallte sanft durch den Gang – ein bisschen schief, ein bisschen zerbrechlich, aber voller Herz. Manche lächelten schon, als wir die Tür öffneten. Andere schauten einfach nur, mit Augen, die müde waren und doch leuchteten.

In einem Zimmer lag eine alte Frau, deren Atem flach war. Sie bewegte nur die Lippen zu den Worten. Ihre Hand lag auf der Decke, und ich nahm sie vorsichtig. Sie war kühl und zart wie Pergament.

Als wir sangen, drückte sie meine Hand. Ganz leicht. Kaum spürbar.

Aber ich fühlte es. Menschen die sich festhalten.


Normalerweise hätte ich geweint. Vor Anteilnahme. Vor der Größe des Moments. Aber an diesem Tag hielt ich die Fassung – nicht aus Stärke, sondern weil es nicht um mich ging. Es ging darum, diesen Moment für sie stehen zu lassen. Ungestört. Rein.

Und dort, im Angesicht eines zu Ende gehenden Lebens, wurde mir wieder bewusst:

Bei allem Negativen, was auf der Welt geschehen kann – Ärger, Sorgen, Kummer, Not – alles verliert an Gewicht, wenn die Tage gezählt sind

Was bleibt, ist das Wesentliche: Der Sonnenaufgang durch ein Krankenhausfenster. Die Menschen, die man liebt. Der Klang einer alten Melodie, der Duft der schöne Erinnerungen hervorruft und uns mit dem Leben verbindet.


Vielleicht ist genau das das eigentliche Geschenk der Weihnacht.

Nicht der Glanz. Nicht die Perfektion. Nicht die Geschenke vom Wünschebaum.

Sondern die Nähe. Der Augenblick. Die Erinnerung daran, dass wir einander berühren können – still und ruhig, einfach so.

Mit einem schiefen Lied. Mit einer fremden Hand, die eine andere hält. Mit der Entscheidung, das Licht zu halten, auch wenn in uns selbst Dunkelheit wohnt.


Ich bin hier. Du bist hier. Wir sind zusammen. Und irgendwo im tiefsten Dunkel leuchtet ein Licht.

Und für einen Moment – nur für einen – ist das alles, was zählt.

Von Herz zu Herz Jay

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